Mögliche radiologische Notfälle

Bei radiologischen Ereignissen denkt man meist an schwere Unfälle in Kernkraftwerken. Radiologische Notfälle können aber auch durch eine Reihe anderer Ereignisse entstehen.

Je nach radiologischer Auswirkung unterscheidet man bei radiologischen Zwischenfällen zwischen

  • Ereignissen, die zu einer großräumigen Kontaminierung führen können, wie
    • Unfälle in kerntechnischen Anlagen, zum Beispiel Kernkraftwerksunfälle oder
    • Absturz von Satelliten mit radioaktiven Stoffen und
  • Ereignissen, die kleinräumige Auswirkungen verursachen können, wie
    • Unfälle mit radioaktiven Quellen (Brand, Diebstahl),
    • Unfälle beim Transport von radioaktiven Stoffen und
    • Radiologischer Terror.

(Erklärung: Eine Kontaminierung ist eine durch radioaktive Stoffe verursachte Verunreinigung insbesondere der Umwelt (Luft, Boden, Pflanzen …), aber auch von Gegenständen und Personen.)

Zwischenfälle in Kernkraftwerken

Zwischenfälle in Kernkraftwerken (KKW) reichen von Ereignissen ohne sicherheitstechnischer Bedeutung bis zur Katastrophe mit internationalen Auswirkungen, wie dem Reaktorunfall bei Tschernobyl 1986 oder in Fukushima 2011. Bei KKW-Unfällen kommt es im schlimmsten Fall zu einer massiven Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umwelt.

Kernkraftwerke haben unterschiedliche Sicherheitsstandards

Kernkraftwerke sind im Prinzip Dampfkraftwerke, die über Dampfturbinen Strom erzeugen. In Kernkraftwerken wird die zum Verdampfen des Wassers benötigte Wärme aus Kernenergie gewonnen.

In Europa werden unterschiedliche Kernkraftwerkstypen betrieben, die sich in ihren Konstruktionsmerkmalen und Sicherheitsstandards unterscheiden. Dadurch ist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls bei den verschiedenen Anlagen unterschiedlich groß. Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wurden viele bestehende Anlagen sicherheitstechnisch nachgerüstet. Nach dem Unfall in Fukushima wurden Kernkraftwerke in der Europäischen Union einer Risiko- und Sicherheitsbewertung („Stresstests“) unterzogen und in Hinblick auf Naturkatastrophen bedingte Unfälle aufgerüstet.

Von der Betriebsstörung bis zum schweren Unfall

Zwischenfälle in Kernkraftwerken können von geringfügigen internen Betriebsstörungen bis hin zum schweren Unfall mit einer Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt reichen. Zu geringfügigen internen Betriebsstörungen zählen kleine Abweichungen vom vorgeschriebenen Normalbetrieb der Anlage wie zum Beispiel ein geringer Druckanstieg in der Kühlmittelleitung oder der Ausfall eines Nebenaggregats. Solche Ereignisse treten relativ häufig auf. Schwere Unfälle mit katastrophalen Auswirkungen hingegen geschehen, wenn sämtliche gestaffelte Sicherheitseinrichtungen und Rückhaltesysteme versagen. Solche schweren Unfälle sind sehr unwahrscheinlich.

Der schwere KKW-Unfall

Für den sicheren Betrieb eines Kernkraftwerkes müssen folgende grundlegende Sicherheitsfunktionen gewährleistet sein:

  • Abschalten des Reaktors zum Stoppen der Kettenreaktion
  • Kühlen der Brennelemente zur Abfuhr der Nachzerfallswärme
  • Einschluss der radioaktiven Stoffe im Kraftwerk durch mehrere Barrieren (zum Beispiel Druckgefäß der Brennelemente, Containment)

Ein schwerer Unfall ist nur dann möglich, wenn die Hüllen der Brennelemente beschädigt werden. Dies kann zum Beispiel durch einen Kühlmittelausfall ausgelöst werden. In Folge käme es zu einer unkontrollierten Erhitzung und schließlich zum Schmelzen der Brennelemente. Barrieren- und Rückhaltesysteme sollen im Fall einer solchen Kernschmelze die Freisetzung der radioaktiven Stoffe in die Umwelt verhindern. Wenn aber alle Sicherheitssysteme, Barrieren und Rückhaltesysteme versagen, werden große Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt.

Vorwarnzeit

In den meisten Fällen würde eine Beschädigung des Reaktorkerns in einem Kernkraftwerk nicht sofort zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umwelt führen. Die verschiedenen Sicherheitssysteme, Barrieren und Rückhaltesysteme verzögern die Freisetzung in die Umwelt. Dadurch ergibt sich in den allermeisten Fällen eine Vorwarnzeit von mehreren Stunden bis zu einigen Tagen. Für die Notfallplanung bedeutet eine Vorwarnphase die Möglichkeit, die Bevölkerung frühzeitig zu warnen, Schutzmaßnahmen vorzubereiten oder zu ergreifen und somit die radiologischen Auswirkungen zu minimieren.

Mögliche Szenarien in Österreich

Schwere Kernkraftwerksunfälle mit Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt sind sehr unwahrscheinlich, aber wie die katastrophalen Unfälle in Tschernobyl 1986 und in Fukushima 2011 gezeigt haben, nicht ausgeschlossen. Wie stark Österreich nach einem sehr schweren KKW-Unfall betroffen ist, hängt von verschieden Faktoren ab, insbesondere von der Entfernung zum Unfallreaktor. Im Wesentlichen können drei Szenarien unterschieden werden:

Schwerer KKW-Unfall außerhalb von Europa (zum Beispiel Fukushima)

  • Österreich ist aufgrund der sehr großen Entfernung nicht betroffen –  freigesetzte radioaktive Stoffe können Österreich nur in extrem geringen Mengen erreichen
  • Schutzmaßnahmen für Österreicher im Unfallland und Reisewarnungen für die betroffenen Regionen können notwendig sein
  • Importe aus der Unfallregion (Waren, Lebens- und Futtermittel) müssen unter Umständen auf Kontaminationen überprüft werden

Schwerer KKW-Unfall in Europa – weit entfernt von Österreich (zum Beispiel Tschernobyl)

  • Eine Betroffenheit Österreichs ist je nach Schwere des KKW-Unfalls und der Wettersituation (Windrichtung, Niederschlag) möglich – radioaktiv kontaminierte Luftmassen können nach Österreich transportiert werden
  • Aufgrund der Entfernung und der Verdünnung der radioaktiven Stoffe während des Transportes sind keine Sofortmaßnahmen wie die Einnahme von Kaliumiodidtabletten und der Aufenthalt in Gebäuden notwendig
  • Maßnahmen in der Landwirtschaft zum Schutz der Lebensmittel können nötig werden
  • Schutzmaßnahmen für Österreicher und Österreicherinnen im Unfallland, Reisewarnungen für die betroffenen Regionen und Importkontrollen können notwendig sein.

Schwerer KKW-Unfall in Europa – grenznah zu Österreich

  • Österreich ist je nach Schwere des KKW-Unfalls und der Wettersituation (Windrichtung, Niederschlag) betroffen – radioaktiv kontaminierte Luftmassen können nach Österreich gelangen
  • Zusätzlich zu Maßnahmen in der Landwirtschaft zum Schutz der Lebensmittel können regional auch Sofortmaßnahmen insbesondere für Kinder (Einnahme von Kaliumiodidtabletten und Aufenthalt in Gebäuden) notwendig sein.
  • Schutzmaßnahmen für Österreicher und Österreicherinnen im Unfallland, Reisewarnungen für die betroffenen Regionen und Importkontrollen können notwendig sein.

Absturz von Satelliten mit nuklearer Energieversorgung

Satelliten können zur Stromversorgung mit Radionuklidbatterien beziehungsweise kleinen Reaktoren ausgestattet sein. Der Absturz eines solchen Satelliten in Österreich ist extrem unwahrscheinlich, würde aber zu einer großräumigen Verteilung von radioaktiven Bruchstücken in der Umwelt führen.

Hat ein Satellit das Ende seiner Lebensdauer erreicht, wird er in eine höhere Umlaufbahn geschickt, wo die vorhandenen radioaktiven Stoffe abklingen können. Sollte dieses Sicherheitssystem nicht funktionieren und es zu einem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre kommen, ist zu erwarten, dass radioaktive Bruchstücke großräumig in der Umwelt verteilt würden. Ein Satellitenabsturz über Österreich ist ein extrem unwahrscheinliches Ereignis. In der Vergangenheit sind die Abstürze von zwei russischen Satelliten mit nuklearer Energieversorgung bekannt geworden: im Jahr 1978 über Kanada und 1983 in den Südatlantik.

Satelliten werden von Bodenstationen beobachtet und es ist möglich, vorherzusagen, in welchem Gebiet der Absturz stattfinden wird. Droht in Österreich tatsächlich der Absturz eines Satelliten mit nuklearer Energieversorgung, wird die Bevölkerung zeitgerecht gewarnt und geeignete Schutzmaßnahmen, wie der Aufenthalt in Gebäuden, werden vorsorglich empfohlen.

Transportunfall mit radioaktiven Stoffen

Der Transport radioaktiver Stoffe auf Straße und Schiene unterliegt sehr strengen Sicherheitsvorschriften. Vor allem beim Transport von radioaktiven Stoffen mit hohen Aktivitäten werden spezielle Transportbehälter verwendet, die bei schweren Unfällen selbst unter größter mechanischer Belastung oder Hitzeeinwirkung den Austritt von radioaktiven Stoffen verhindern sollen.

Trotzdem kann es bei einem Transportunfall mit radioaktiven Stoffen zum Austritt von Radioaktivität in die Umwelt und somit zu einer Kontaminierung von Personen kommen. Solche Unfälle würden nur kleinere Gebiete betreffen und die radiologischen (gesundheitlichen) Auswirkungen wären meist gering. Schutzmaßnahmen, wie etwa Absperren und Dekontamination des Unfallortes, können notwendig sein.

Radiologischer Terror

Auch terroristische Aktionen könnten zu einer radiologischen Gefährdung der Bevölkerung führen. „Schmutzige Bomben“ sind Vorrichtungen mit konventionellem Sprengstoff, die dazu dienen, radioaktive Stoffe zu verbreiten.

Radiologische Auswirkung

Die radiologische Auswirkung schmutziger Bomben ist nicht mit den verheerenden Folgen von Atombomben zu vergleichen, da es bei der Explosion zu keiner Kettenreaktion kommt. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass die direkte Wirkung des Sprengsatzes viel größeren Schaden mit Verletzten und Toten anrichten würde, als die Belastung durch die radioaktive Strahlung selbst. Die radiologische Auswirkung auf die Umwelt wäre räumlich sehr begrenzt und würde bei einigen 100 Metern bis zu wenigen Kilometern liegen.

Psychosoziale Auswirkungen

Nicht zu unterschätzen sind aber die psychosozialen Auswirkungen eines solchen Anschlags. Die Explosion einer schmutzigen Bombe würde zu großer Besorgnis führen. Maßnahmen wie zum Beispiel Informationen und psychologische Betreuung sind daher besonders wichtig.

Wirtschaftlicher Schaden

Eine Kontamination von stark frequentierten öffentlichen Orten wie zum Beispiel Bahnhöfe oder Großveranstaltungen kann auch beträchtliche wirtschaftliche Auswirkungen haben. Dekontaminationsmaßnahmen im städtischen Bereich sind meistens sehr zeitaufwändig und teuer.

INES-Skala

Um die Schwere von Zwischenfällen in Kernkraftwerken in verständlicher Weise zu beschreiben, wurde eine internationale nukleare Ereignisskala eingeführt. Die International Nuclear Event Scale (INES-Skala) wurde Anfang der neunziger Jahre von der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) ins Leben gerufen. Die Ereignisse werden nach drei Aspekten bewertet:

  • Radiologische Auswirkungen außerhalb der Anlage
  • Radiologische Auswirkungen innerhalb der Anlage
  • Beeinträchtigung der Sicherheitsvorkehrungen

Die achtstufige Skala unterscheidet zwischen Störungen (Stufe 1), Störfällen (Stufe 2 bis 3), und Unfällen (Stufe 4 bis 7). Die höchste Stufe entspricht einem katastrophalen Unfall, wie er 1986 in Tschernobyl oder 2011 in Fukushima stattgefunden hat. Die Stufe 0 wurde nachträglich für Ereignisse ohne sicherheitstechnische Bedeutung hinzugefügt.

Die INES-Skala wurde von der IAEA später erweitert und kann auch zur Klassifizierung von radiologischen Ereignissen bei Transporten oder dem Umgang mit radioaktiven Quellen angewandt werden.